Mehr als Sex
Charlotte Roche jetzt als Eden im Kino
Wozu ist die Zunge da? Natürlich, um im Mund Worte zu formen, die Sprache zum Klingen zu bringen. So leistet sie ihren wesentlichen Beitrag zur Kommunikation, zum Austausch zwischen Menschen. Aber was ist mit den Dingen, die man nicht so gut in Worte fassen, oder, wie es im Talkshowdeutsch so gerne heißt, „die man einfach nicht beschreiben kann“?
Natürlich leistet auch hier die Zunge einen wesentlichen, sehr wahrscheinlich sogar den entscheidenden Beitrag. Geschmack liegt und entfaltet sich bekanntlich auf der Zunge, die zu diesem Vorgang – analog zum Sprechen – nicht extra rausgestreckt werden muss. Die redende und die schmeckende Zunge schließen sich bekanntlich aus und dennoch oder gerade deshalb will die Redende gerne die Eindrücke der Schmeckenden zum Ausdruck bringen, mitteilen, was die andere erlebt hat.
Selbstredend spricht jemand, der sich dem Schmecken hingibt – naturgemäß – wenig. Für Gregor ist die Sache klar. Er will schon seit seiner Pubertät an seinen Rundungen arbeiten. Nicht, dass er sie wegbekommen will, nein, im Gegenteil, er möchte welche bekommen. An diesem Ziel arbeitet er so – im wahrsten Sinn des Wortes – verbissen, wie konsequent. In den seltenen pubertären Fällen, in denen er merkt, dass ein Mädchen ihm Avancen macht, beißt er beherzt in eine Pizza, um den Blick von der Versuchung zu wenden, die ihm von seinem Ziel abbringen könnte.
Gregor wird folgerichtig Koch. Nicht irgendein Koch in einer Frittenschmiede, Mensa oder einem gutbürgerlichen Restaurant – nein, Gregor wird Chef seines eigenen kleinen Restaurants in einem überschaubaren Kurort. Dort ist er mit seiner „Cucina Erotica“ nicht nur den gesamten Tag über beschäftigt, sondern auch so erfolgreich, dass alle Plätze ein halbes Jahr im Voraus ausgebucht sind.
Für ihn ist das ein wunderbarer Umstand. Auf diese Weise kann er in Ruhe in der Küche an seinen Rezepten tüfteln und braucht mit niemandem zu reden, denn das Reden ist seine Sache weniger als das Schmecken. Allerdings kann er auf sich aufmerksam machen. Zum Beispiel, wenn etwas nicht schmeckt. Der Espresso, den er im Kurhaus serviert bekommt ist eher mittelmäßig und wenn Gregor etwas hasst, dann sicherlich Mittelmäßigkeit. Zumindest, wenn es sich um Nahrungsmittel handelt.
Eden (Charlotte Roche), die Kellnerin, hat sich in diesem Mittelmaß gerade notgedrungen eingerichtet. Das Kurhaus, gehört ihren Schwiegereltern, für die sie ebenfalls nur zweite Wahl ist. Ihr Mann Xaver (Devid Striesow), gibt ihr die „Schuld“ daran, dass sie ein behindertes Kind, Leonie (Leonie Strepp) haben. Insgesamt entspricht die Ehe den Erfordernissen des provinziellen Kurorts, der die besten Jahre schon hinter sich hat.
Aber dann schenkt Gregor Leonie einen Kuchen mit selbst gemachten Pralinen zum Geburtstag. Es ist einer der entrückenden Momente dieses Films. Leonie ist außer sich, als sie die Pralinen im Mund zergehen lässt. Sie kann ihrer Umgebung nicht mitteilen, was sie bewegt, zu überwältigend ist das Gefühl, das ihre Zunge gefangen hält. Die zahlreichen Geburtstagsgäste wissen nicht, was mit ihr los ist und geben der Schokolade, auf die das Mädchen häufig allergisch reagiert, die Schuld. Als Eden eine Praline probiert, verschlägt es ihr den Atem. Für einen Moment ist sie dieser bizarren Umgebung vollständig entrückt. Augenblicklich begreift sie, was sich in ihrer Tochter abspielt und warum diese unbedingt mehr von diesem tollen Zeugs haben möchte.
Also besucht sie Gregor in dessen Küche. Dieser wird unsicher, ängstlich, beginnt zu stottern. Als er aber merkt, dass Eden sich lediglich mit Genuss und Gier über sein Essen her macht, wird sie zu seiner Inspirationsquelle.
Im Bett gesteht Eden ihrem Mann: „Diese Praline hat mich einfach überwältigt. Ich hab schon davon geträumt, mir eine Praline im Mund zergehen zu lassen und gleichzeitig mit dir zu schlafen. Das wäre wie in doppelter Orgasmus.“ Aber zu diesem Zeitpunkt ist Xaver schon eingeschlafen. Doch bald beginnt der biedere Ehemann unruhig zu werden. Wie kommt es, dass seine Frau auf einmal so herrlich kochen kann? Warum stimuliert sie ihn plötzlich sexuell? Irgendetwas kann da doch nicht mit rechten Dingen zu gehen. Es muss an diesem Koch liegen! Es kann ja wohl nicht angehen, dass man so viel Gefühl entwickelt, wenn man sich nur einmal zaghaft berührt hat. Und so beschließt Xaver, sich als Gast ins Restaurant einzuschleichen. Denn schließlich gibt es Dinge in der Provinz, die es nicht geben darf, damit alles so bleiben kann, wie man es gerne hätte.
Michael Hofmann nimmt sich Zeit für seinen Film. Er führt die Kamera ganz zärtlich an die Schauspieler heran. Zeigt sie in ihrer liebevollen Zerbrechlichkeit. Josef Ostendorf spielt den Koch Gregor unglaublich, er muss nicht reden, man muss ihm nur zusehen und ihn manchmal leicht schnauben hören, alles andere entwickelt sich. Auch Charlotte Roche spielt ihre Rolle überzeugend, die Blicke zwischen Eden und Gregor heben den Mangel, das Essen nicht selber probieren zu können, teilweise auf. Hofmann ist ein Film gelungen, der eine knappe Stunde lang eine Poesie entwickelt, wie man sie sonst nur von der anderen Seite des Rheins im Kino zu sehen bekommt.
Eden. Deutschland/Schweiz 2006. 103 Minuten.
Regie: Michael Hofmann. Mit: Charlotte Roche, Josef Ostendorf, Devid Striesow, Leonie Strepp, Manfred Zapatka
Ab 23.11 im Kino