Der Traum von der Küche: Steven Spielbergs „München“
Kein Dokudrama
Der Mann, Avner, sieht sich eine Küche an. Er selbst steht im Dunkeln auf der Straße. Die Küche hinter dem Schaufenster ist beleuchtet und schimmert warm. Eine Küche ist für den Mann als Familienvater alles. Alles verschmilzt in ihr zum Symbol für Familie, Geborgenheit, Freundschaft. In der Küche kann er sein Kind und seine Frau versorgen. Er kann für sie da sein.
Der Mann kann übrigens kochen und mit dieser Tätigkeit verbindet er viel, das werden auch seine neuen Kollegen bald bemerken. Kochen verlangt nach Regeln, dass weiß er. Eine frische Küche verlangt nach den Produkten der Saison.
Mit seiner Kochkunst könnte er nicht nur Wärme vermitteln, sondern auch ein implizites Wissen, dass im Zusammensein gut aufgehoben wäre. Schließlich ist auch das Kochen ein zeugender Akt, dem das Vergängliche innewohnt.
Jetzt aber ist er auf der anderen Seite des Schaufensters und das Glas der Scheibe scheint unüberwindlich zu sein. Um für seine Familie als Vater da zu sein, muss er erst Geld verdienen, schließlich müssen viele neue Dinge angeschafft werden, wie ihm seine schwangere Frau, die ihn unwillig gehen läst, noch mit auf den Weg gibt. Doch was soll er tun? Und mehr noch: was darf er tun und was darf er nicht unterlassen, um sich für das Wohl seiner Familie zu sorgen? Kochen allein reicht nicht, denn schließlich ist er kein Berufskoch. Er kann zwar kochen, aber das wird seine Familie nicht ernähren. Er hat zu klobige Finger, um ein guter Koch zu sein, aber er hat eine zu weiche Seele, um seinen Beruf wirkungsvoll ausüben zu können.
Natürlich haben wir es dieses Mal mit dem abwesenden Vater in seiner Anwesenheit und damit mit einer neuen Variante des ständigen Spielbergschen Themas zu tun. Der Beruf dieses werdenden Vaters verlangt es, dass er sich auf unbestimmte Zeit von seiner Frau trennt, um einen Auftrag seines Vaterlandes zu übernehmen.
Er wird von der Staatsfamilie zu einer Unterredung eingeladen. Die Landesmutter Golda Meir nimmt ihn wie einen Sohn auf. Sie unterhalten sich darüber darüber, wie gut sie seinen Vater kenne und welch große Ähnlichkeit er mit seiner Mutter habe. Natürlich wird er das Kommando, das er von dieser Familie erhält übernehmen. Seine Familie ist in Gefahr und er hat den Auftrag sie zu schützen.
Der schwarze September
Der Film selbst lässt erst einmal keinen Zweifel daran aufkommen, um was es geht: um die Geiselnahme in München bei den Olympischen Spielen 1972. Allein dieses Thema aufzugreifen und zu zeigen, dass es nicht nur das Olympiastadion und die friedlichen Spiele in München gab, ist schon aller Ehren wert. Spielberg gelingt es, uns nicht mit einem Dokudrama zu ermüden: er unternimmt vielmehr den Versuch, einen zeitlich genauen Ablauf zu protokollieren, denn er möchte einen Spielfilm machen, der lediglich auf wahren Begebenheiten basiert. So erreicht er es, dass der 164-Minuten-Film auch nicht einen Moment langweilig wirkt.
Spielberg hält sich nicht länger mit den Abläufen in München und Fürstenfeldbruck auf, das hat bereits Arthur Cohn mit „Ein Tag im September“ geleistet. Sein Fokus richtet sich auf die Ereignisse, die der Staat Israel politisch gestaltet. Er thematisiert die Reaktion eines Staates gegen einen Akt des Terrors, also ein sehr aktuelles Problem.
Die brutale Wirklichkeit der Ereignisse des 5. und 6. Septembers wird schnell und eindringlich abgehandelt. Das Kommando der Palästinenser gelangt nachts zur Unterkunft der israelischen Sportler. Schnell werden die schlaftrunkenen Männer überwältigt, einige werden schon dabei ihr Leben verlieren. Dann gibt es Verhandlungen mit den zuständigen Behörden. Die Palästinenser verlangen zum Flughafen gebracht zu werden. Von dort wollen sie mit ihren Geiseln nach Kairo geflogen werden.
Die Spiele gehen zunächst unbeirrt weiter, als wäre nichts geschehen. Es wird die Nachricht verbreitet, dass die Entführer überwältigt und alle Geiseln frei seien. Dann aber eskaliert die Situation und es kommt zu einem Blutbad. Wie kann man auf einen solchen nie da gewesenen Akt des Terrors reagieren? Soll man als Staat mit rechtsstaatlichen Mitteln reagieren und die Auslieferung der Drahtzieher beantragen? Soll man ihrer habhaft werden und sie vor Gericht bringen, wie man es ein paar Jahre zuvor mit Eichmann unternommen hat? Welche Mittel darf man anwenden, um sich zu schützen? In der Liebe und im Krieg sind alle Mittel erlaubt. Wirklich alle?
In rechtsfreien Schattenbereichen
Avner kann sich glücklich schätzen. Er kommt aus guter Familie. Seine Frau erwartet ein Kind und Golda Meir selbst legt ihm Nahe, ein wichtiges Kommando für den Staat Israel zu übernehmen. Er soll Teamleiter einer kleinen Gruppe werden, welche die Drahtzieher des Münchener Anschlags liquidieren soll.
Mit der Annahme dieses Auftrags beginnen aber sofort die Probleme. Avner darf nicht mehr existieren. Er muss einen Vertrag unterschreiben, der ihn zu einer inexistenten Person macht.
Kann es für einen Familienvater sinnvoll sein, auf die eigene soziale Existenz zu verzichten? Kann man – eine paradoxe Überlegung – durch einen solchen heroischen Verzicht vielleicht seine Interessen am besten wahren? Wäre der inexistente Vater am präsentesten? Diese Fragen bilden das Gewebe, das dem Film seine Form verleiht. Es ist klar, dass jetzt Avners Familie in Israel nicht mehr sicher ist. Deshalb schickt er seine Frau nach New York, damit sie nicht selbst Opfer eines Anschlags wird.
Avner unterschreibt den Vertrag, der bescheinigt, dass es keinen Vertrag gibt. Er geht in den Untergrund, um die Drahtzieher des Anschlags von München gezielt auszuschalten. Das hastig zusammen gewürfelte Team lernt sich beim Essen kennen. Durch einen Freund aus Frankfurt kann Avner Kontakt zu Louis aufnehmen. Dieser wird ihm gegen Geld Hinweise zur Durchführung seines Auftrags beschaffen. Avner hat keine andere Möglichkeit, als den zufälligen und spärlichen Informationen zu vertrauen. Auch wenn das Team heimlich und verborgen arbeiten soll, zieht es unwillkürlich eine blutrote Spur quer durch Europa.
Als bei einem Einsatz ein KGB Agent getötet wird, schaltet sich Louis in die Geschehnisse ein. Er bringt Avner zu „Papa“, der seine Familie von seinem Landsitz aus bekocht und versorgt. Diese graue Eminenz bietet Avner einen Platz in seiner Familie an. Die beiden werden nicht nur zusammen kochen, Avner darf auch an der langen Familientafel Platz nehmen. „Papa“ scheint über alle Geheimdiensttätigkeiten in Europa und Nahost informiert zu sein. Er ist der wahre Souverän im Bereich der geheimdienstlichen Tätigkeiten. Er hat das Recht Leben zu lassen und Sterben zu machen. Ein sensibler Mann, de sich um das Wohl seiner Familie kümmert und akzeptiert, dass das Geld seine Geschäftsbedingungen bestimmt.
Spätestens hier erkennt Avner, dass es für sein Leben und das Leben seiner Teammitglieder keine Sicherheit mehr gibt. Die Zweifel an seiner Aufgabe werden drängender. Ist er nicht selbst zu einem skrupellosen Mörder geworden, der auf den bloßen Hinweis einer zwielichtigen Person Menschen umbringt, von denen er nicht wissen kann, was sie wirklich verbrochen haben? Avner wird nicht mehr lange den Vollstrecker spielen. Er sieht für sich keine Legitimation mehr. Als er bereits zu viele Menschen umgebracht hat, erkennt er, dass er durch seine als Vergeltung und Abschreckung geplante Aktion lediglich Gegenterror ausübt. Er steigt aus, um endlich als Vater für seine Familie präsent sein zu können.
Halt suchen bei Kochen und Familie
In New York lässt ihn die Angst nicht mehr los, dass er seine Familie in Gefahr gebracht hat. Doch die Küche der neuen Wohnung ist zu groß, er wird sie nicht ausfüllen können. So wendet er sich an seine beiden anderen Familien, an den Staat Israel und an „Papa“.
Vielleicht gibt es noch die Möglichkeit für ihn und seine Familie, ein gesichertes Leben in Israel zu führen. „Papa“ wird ihm aus dem fernen Frankreich richtigen Käse und Andouillettes schicken. Ein Zeichen der Sicherheit.
Kochen – das haben wir im Laufe des Films gelernt – ist mehr als Nahrungsaufnahme. Es verbindet die Menschen, macht sie zu einer Gemeinschaft, manchmal auch zu einer Familie. Man sollte die Einladung eines Kochs zum Essen besser nicht ablehnen, es sei denn, dass man auf gemeinschaftsbildende Handlungen keinerlei Wert legt. Das gemeinsame Essen als Zeichen der Gastfreundschaft, der Gemeinschaft und der Versöhnung. Sein Verbindungsoffizier lehnt die Einladung zum Essen ab. Doch Avner wird nun in New York bleiben.
Wir sehen die Skyline der City, es ist die Zeit, in der das WTC noch an seinem Platz steht und spätestens in dieser letzten Einblendung begreifen wir, dass sich die Fragen des Films nicht an Israel richten, sondern an die USA. In welches Land sollte Avner mit seiner Familie heute noch ziehen? Gibt es die Küche wirklich nur hinter Schaufensterglas?
Spielberg ist ein hochaktueller Film gelungen, der den Zuschauer ohne das wohlige Gefühl klarer Schuldzuweisungen zurück lässt.