Ein Jubiläum – Norbert Elias zum 110. Geburtstag
Tausend Jahre ist es her, da erregte ein Skandal unerhörten Ausmaßes die abendländische Welt. In Venedig glaubte man den Tag des jüngsten Gerichts aufziehen zu spüren, denn eine ungeheure Freveltat ereignete sich im elften Jahrhundert in der Lagunenstadt. Die Prinzessin von Byzanz erhitzte die Gemüter der bei Tisch versammelten Edelleute. Nicht weil diese Dame einen Dogen ehelichte, sondern weil sie die gesamte christliche Etikette teuflisch verunglimpfte. Sie ehrte Gottes eigene Speisen nicht dadurch, dass sie diese mit der vom himmlischen Vater für genau diese Zwecke vorgesehene eigene Hand zum Munde führte. Nein! Sie schien mit dem Leibhaftigen höchst selbst im Bunde, denn sie wagte es, die Speisen nicht mit den Fingern zu berühren. Der Skandal: sie verwendete eine Gabel.
Vielleicht werden sie sich fragen, wer Norbert Elias eigentlich war. Die Frage ist so berechtigt, wie die danach, womit er bekannt wurde. Norbert Elias wird 1897 in Breslau geboren, macht sein Abitur und wird in den ersten Weltkrieg eingezogen.
1917 beginnt er das Studium der Philosophie, Psychologie und Medizin. Er promoviert 1924 und reicht 1933 seine Habilitation in Frankfurt/Main ein. Das Verfahren wird durch die Machtübernahme der Nazis gestoppt, Elias muss ins Exil gehen und schreibt dort an seinem Hauptwerk, das er 1939 im Alter von 42 Jahren veröffentlicht. „Der Prozess der Zivilisation“ findet in diesen unruhigen Zeiten kaum Beachtung. Lediglich eine Tagebucheintragung von Thomas Mann belegt den Wert dieser Arbeit für den Literaten.
1962 erhält Elias eine Professur für Soziologie an der Universität von Ghana. Erst in den siebziger Jahren findet sein Werk auch in Deutschland Beachtung. Der „Prozeß der Zivilisation“ wird bei Suhrkamp aufgelegt. 1977 erhält Elias als erster Preisträger den Theodor-W.-Adorno- Preis und bekleidet dann im Pensionsalter von immerhin 80 Jahren erstmalig Gastprofessuren in verschiedenen Städten Deutschlands. Elias hat es wie kein anderer historisch versierter Soziologe verstanden, die Dinge des Alltags in ihrem gesellschaftshistorischen Wandel zu sehen. Nicht umsonst spielen die Manieren bei Tisch, die Verwendung der Gabel, die Haltung des Messers eine entscheidende Bedeutung in seiner Theorie. Ist ihre Verwendung doch zugleich ein Maßstab für das allmähliche Erlernen von Selbstbeherrschung und Affektregulierung.
Die zunehmende Trennung von öffentlichen und privaten Bereichen zeigt sich für ihn nirgendwo deutlicher als in der Trennung der Küche vom Speisezimmer: Die Produktion verschwindet hinter Kulissen, die Teile der zubereiteten Tiere werden stets kleiner, das Tier selbst verschwindet hinter der Portion auf dem Teller.
Und die Getränke? Denken sie nur an historische Entwicklung der Mäßigung und des Maßhaltens. Der Weg führt vom Fass zum Pokal. Von der Karaffe zum Glas, das wir erheben können: Norbert Elias, gestorben 1990, wäre in diesem verregneten Sommer 110 Jahre alt geworden.
Santé!