Unglückliche Mahlzeiten – Paul Bocuse und Michael Pollan schlagen Koch-Alarm
Vor zehn Jahren erlebte ein bizarrer Film seine deutsche Uraufführung. Lost Highway von David Lynch lässt uns in die Welt des Jazzsaxophonisten Fred Madison eintauchen. Wir erleben als Zuschauer mit, wie jemand buchstäblich die Fahrbahn verlässt und in eine andere Vorstellungswelt rutscht. Die ersten Risse treten unscheinbar auf. Es gibt anonyme Videoaufnahmen, die das Haus von Fred und seiner Frau Renee von außen zeigen, dann welche, auf denen die Zimmer des Hauses gezeigt werden. Die beiden Kriminalbeamten Al und Ed untersuchen das Haus auf Einbruchspuren, finden aber nichts. Al kann lediglich konstatieren, dass hier merkwürdige Zufälle am Werk sind, während Ed seinen Kollegen lakonisch an seinen kriminalistischen Erfahrungsschatz erinnert und damit sehr knapp das Programm des Films umreißt: „Zufälle sind niemals Zufälle!“
Vor einigen Tagen ereignete sich ein merkwürdiger Zufall, als aus Frankreich, dem Mutterland der höfischen Küche und aus Amerika, dem Mutterland der Hamburger und Nahrungsergänzungsmittel zeitgleich Artikel erschienen, die das Koch- und Essverhalten kritisierten. Was aber ist geschehen? Zwei Menschen, die unterschiedlicher kaum denkbar sind, die Kochikone Paul Bocuse und der Berkeley Professor für Journalismus Michael Pollan schlagen heftigen Koch-Alarm.
Der einstige Wegbereiter der nouvelle cuisine, mittlerweile über achtzig Jahre gibt im Figaro ein Interview. Weit entfernt von Alterstarrsinnigkeit kritisiert Bocuse die neuen Formen der Küche, die weder etwas mit dem Produkt noch mit traditioneller Kochkunst gemein haben. Nicht nur den Stickstoff als Herdersatz lehnt er ab, sondern vor allem die mit seiner Hilfe erzeugten künstlichen Gebilde der Molekularküche, die an Chemielabore erinnern und bei denen man eine Anleitung braucht, um zu wissen in welcher Reihenfolge man seinen Teller leer zu essen habe. Das Artifizielle überdeckt alle Aspekte dessen, was Ernährung ausmache.
Dieselbe Argumentation verfolgt Michael Pollan in seinem exzellenten Artikel. Er möchte keine Nahrung aus der Apotheke aufnehmen und auch nicht einfach aus gesundheitlichen Gründen Essen, sondern sich an Lebensmitteln als solche erfreuen können und Spaß am Essen haben, ohne auf eine Packungsbeilage achten zu müssen. Der Professor, der vor drei Jahren mit seinem Buch „Die Botanik der Begierde“ die nur auf den ersten Blick irritierende These aufstellt, dass nicht wir die Pflanzen nutzen, sondern dass es die Pflanzen sind, die uns domestiziert haben wie die Bienen, kritisiert unsere Essgewohnheiten nun grundsätzlich. Wir sollten endlich wieder Spaß an unserem Essen gewinnen und es nicht behandeln, als wären wir bettlägerig. Die Anwesenheit von unsichtigen Wirkstoffen, wie Fettsäuren und Ballaststoffen wurde eine Allheilwirkung zugeschrieben, mit denen man alle Fertigprodukte in die Nähe eines Jungbrunnens rücken konnte. Es wird Zeit, dass wir wieder zu den Lebensmitteln zurückkehren.
Es ist wohl kein Zufall, wenn zwei Profis mit so unterschiedlichen Biographien zu dem Ergebnis gelangen, dass bei der Ernährung die Sinnlichkeit nicht verloren gehen darf.
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