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Realitäts-Hunger

von Nik zu 7. April 2010

Natürlich kann man in unserer hochtechnologisierten Welt einen Mangel an Realität beklagen. Wir telefonieren, anstatt ein vis a vis Gespräch zu führen. Wir beschäftigen uns mit Problemen unseres Rechners oder unseres iPods, anstatt zu den Dingen selbst zu gelangen.

Eine solche Klage übersieht zweierlei, dass die Dinge, die wir tuen, für den handelnden Akteur – also uns selbst – stets die Dinge der Realität sind. Denn diese Dinge werden durch unseren praktischen Vollzug real. Darüber hinaus sind wir den Dingen an sich immer schon entrückt. Denn wir haben im Zuge unserer Entwicklung ein symbolisches Universum erfunden, um genau von dieser Realität der Dinge nicht überschwemmt zu werden.

Daher haben wir im Laufe unserer Kindheit gelernt, Dinge bei einem bestimmten Namen zu nennen. Dies hat den unwiderlegbaren Vorteil, dass wir uns die Dinge der Realität ein Stück weit vom Leib halten und über sie kommunizieren können. Denn jede sprachliche Benennung eines Dinges, verschleiert das Ding „an sich“ und sei es auch nur hinter dem Mantel eines Wortes. Wenn ich an dieser Stelle ein Brot beschreibe, dann merken Sie sofort, dass ich ihnen nur die Beschreibung von etwas geben kann, was sie sich vorstellen können. Mithin befinden wir uns in einer anderen Realität als in der Realität „an sich“.

Zum anderen haben wir lediglich ein paar Plätze der Natürlichkeit in unserem kulturellen Leben offen gelassen. Wenn wir den Dingen direkt begegnen wollen, dann haben wir die Möglichkeit, sie uns einzuverleiben. Die Dinge zu kosten, zu essen und sie zu verdauen. Dieser Vorgang ist für den einzelnen so gefährlich wie er notwendig ist. Denn schließlich will nicht nur unsere aromatische Neugier, sondern auch ganz profan unser Hunger gestillt werden.

Zu den Dingen – auch wenn sie dazu meistens nicht roh sondern gekocht sind, also auch hier schon eine kulturelle Überformung erfahren haben wie Claude Levi Strauss herausgearbeitet hat – selbst gelangen wir also durch Einverleibung, profan ausgedrückt durch Speise und Trank.

Zum Glück ist das gemeinsame Mahl eine kulturelle Errungenschaft, welche uns diese direkte Begegnung mit der Realität, mit dem realen Ding an sich, wieder weitgehend vergessen macht. Wir erleben das Gekochte, achten seine Aromen, seine Finesse und unterhalten uns über das zubereitete Mahl, um zu vergessen, dass wir gerade für diesen Moment unseren Hunger nach Realität wieder einmal gestillt haben.

Santé!

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